Lusaka 2009
von Eva Neu aus Siegburg

Nach der Schule etwas erleben, eine andere Welt entdecken, Erfahrungen sammeln und das eigene Leben (ein-)schätzen lernen – mit dieser Motivation wollte ich nach Afrika.

Wohin genau? Keine Ahnung! Und wie das Leben manchmal so spielt, treffe ich über viele Ecken auf den Windecker Förderverein. Sofort begeistert mich das Projekt. Frau Kibkalo und Herr Juda, die beide schon Afrika-Erfahrungen gesammelt haben, ermutigen und unterstützen mich in allen organisatorischen Fragen.

Es geht nach Sambia, ein Land, von dem ich bis dato noch nichts gehört hatte, genauer gesagt nach Lusaka in den Konvent der Holy Cross Sisters. Nach 16-stündiger Reise komme ich dort an, wo ich die nächsten 2 ½ Monate leben werde. Lusaka Flughafen ist klein und einfach ausgestattet, die Einreise trotz Visum problematisch, aber dennoch fühle ich mich irgendwie richtig. In der Eingangshalle werde ich von zwei der Schwestern des Konvents abgeholt, die eine von ihnen ist Schwester Regina, über die ich in meiner Vorbereitungszeit viel gehört, gelesen und die ich in Videos gesehen habe. Die beiden Schwestern begrüßen mich so herzlich, dass ich gleich ein bisschen von meiner Scheu ablegen kann.

Auf der Fahrt vom Flughafen zum Konvent passieren wir unterschiedliche Stadtviertel – Kalingalinga mit seinen Wellblechhütten, den alten Frauen, kleinen Kindern und betrunkenen Männern, die am Straßenrand Bilder, Lebensmittel, Türen, Hühner etc. verkaufen wollen. Was mich am meisten beeindruckt – die Menschen wirken dabei fröhlich, es herrscht eine ausgelassene Stimmung. In anderen Stadtvierteln fahren wir an ummauerten und umzäunten großen Häusern vorbei, vor deren Toren das Wachpersonal auf und ab geht.

Nach kurzer Zeit kenne ich den Tagesablauf im Konvent, in den ich mich bald integriert fühle, habe mich in das afrikanische Englisch eingehört und bin bereit zu arbeiten. Ich arbeite abwechselnd in der Holy Cross Convent School und im Mother Teresa´s Waisenhaus, in dem mich die Holy Cross Schwestern vorgestellt haben. In der kleinen, liebevoll geleiteten Schule mit derzeit 8 Klassen, die in Zukunft auch den Kindern des Poverello Projektes offen stehen soll, hospitiere ich im Unterricht und übernehme die Leseübungen mit den leseschwachen Kindern.

Die Schule wird jetzt noch um weitere 8 Klassen vergrößert, um möglichst vielen Kindern eine Chance auf schulische Basisbildung und damit größere Überlebenschancen zu eröffnen. Da der Bau sich über Spendengelder finanziert, geht er leider nur langsam voran und verursacht Schwester Regina viele schlaflose Nächte. Sie beschäftigt sich Tage lang mit der Finanzplanung, ebenso gibt sie persönlich den Arbeitern auf dem Bau Anweisungen und fliegt nach Südafrika, um dort günstig Fensterrahmen usw. einzukaufen. Die Schule muss zu Beginn des neuen Halbjahres im Januar 2010 fertig gestellt sein, da die Bauleiterin sich fest vorgenommen hat, die Kinder nicht länger auf ihre neue Schule warten zu lassen.

Neben all dem hat Schwester Regina immer noch die Ruhe, sich liebevoll meiner Heimwehanfälle zu widmen, mir von ihren Erfahrungen zu berichten und Ausflüge und Kurzreisen für mich zu organisieren, damit ich so viele Einblicke und Eindrücke wie möglich bekommen kann. Eine dieser Reisen führt mich nach Mongu, wo ich nun endlich einen Einblick in das Poverello Projekt des Windecker Fördervereins bekomme.

Der Bus fährt acht Stunden lang immer geradeaus durch Sand, Gestrüpp und Schlaglöcher. Ab und zu ein kleines Dörfchen, bestehend aus ein paar Lehmhütten, keine Elektrizität, kein fließendes Wasser. Winkende Kinder versuchen mit lachenden Gesichtern dem Bus zu folgen, um Obst, Nüsse, Wurzeln oder ähnliches zu verkaufen. Schnell merke ich, dass ich keine Möglichkeit habe, mich fair zu verhalten. Auch wenn ich es mir wünsche, kann ich nicht jedem Kind etwas abkaufen, nicht jedes Dorf unterstützen. Um so mehr verstärkt sich mein Wille, wenigstens einer bestimmten Personengruppe zu helfen – den Poverello-Kids, wie sie von den Schwestern in Mongu genannt werden.

Ich fiebere der Ankunft und den ersten Treffen entgegen.

Der Bus hält in Mongu auf einem großen Sandplatz, hier werde ich von Schwestern des hiesigen Konvents in Empfang genommen. Am nächsten Tag holt mich Schwester Angela ab, die „rechte Hand“ von Schwester Regina im Poverello Projekt. Wir machen uns auf den Weg in die Malengwa Basic School und anschließend in die Holy Cross Secondary School, zwei von mehreren Schulen, an denen der Windecker Förderverein Poverello-Kids unterstützt. Ich treffe Jungen und Mädchen im Alter von 7-20 Jahren. Manche von ihnen wirken zunächst eingeschüchtert von der Weißen, die während der Unterrichtszeit mit ihnen sprechen möchte.

Ich trage an diesem Tag alte Jeans und ein T-Shirt, nichts Besonderes. Dennoch schäme ich mich, wenn ich die sehnsüchtigen Blicke einiger Kinder und Jugendlichen sehe, die in ihren zum Teil zu kleinen, verschlissenen Schuluniformen vor mir sitzen. Andere beäugen mich skeptisch, während ich mich vorstelle und erzähle, dass ich mir wünsche, das Poverello Projekt zu erfahren, um anschließend in Deutschland vielleicht mehr Menschen dafür gewinnen zu können.

Nach und nach sind alle bereit, mir von ihren persönlichen Schicksalen zu erzählen und sie beginnen teilweise unter Tränen und in gebrochenem Englisch ihre Herzen bei mir auszuschütten. Schwester Angela übersetzt viel, da das Englisch der Kinder oft nicht ausreicht.

Ich merke, wie mein Herz immer schwerer wird und weiß gleichzeitig, dass ich mich jetzt zusammen reißen muss, nicht anfangen darf zu weinen. Sie erzählen mir ihre Geschichten in der Hoffnung, etwas könne sich für sie ändern und ich spüre, wie sie diese Hoffnung ganz konkret in mich setzen.

Die meisten Kinder und Jugendlichen sind Waisen oder Halbwaisen, viele Väter sind schon an Aids oder Malaria oder anderen Krankheiten gestorben, weil sie keinen Arzt und keine Medikamente bezahlen konnten.

Manche Kids versuchen, neben der Schule noch ein bisschen Landwirtschaft zu betreiben, um von der Hand in den Mund zu leben. Besonders berührt mich ein 16 jähriger Junge, der so sehr mit den Tränen kämpft, dass er kaum sprechen kann. Er guckt auf seine Schuhe, während er mir erzählt, dass sein Vater tot, seine Mutter alkoholabhängig und seine Oma schwer krank sei.  Ich frage ihn, was er am dringlichsten brauche und er antwortet, dass er sich wünsche, dass wir nicht aufhören ihn zu unterstützen, sowohl in seiner Schullaufbahn als auch in seinem Studium – er möchte Arzt werden, wie die meisten Poverello-Kids.

Er erzählt mir, dass er und die anderen sich sehr viel Mühe in der Schule geben, dass es aber manchmal nicht möglich ist, anwesend und motiviert zu sein, gute Ergebnisse abzuliefern. Er fragt mich, wie er lernen soll, wenn er zwei Tage lang nichts gegessen hat und er fragt mich, woher er die Kraft nehmen soll, aufzustehen und sich auf den zwei stündigen Schulweg zu machen, wenn er nicht schlafen kann, da der Wind in seine Hütte pfeift und er keine Decke hat. Er möchte wissen, was er tun soll, wenn die Schule ihn nicht zulässt, weil er keine passenden Schuhe zur Uniform hat und sich auch keine leisten kann.

Ich kann ihm keine Antwort geben, abends kann ich nicht schlafen, fühle mich überladen, weiß nicht, wo ich anfangen und wie ich mit der Verantwortung, die ich nun habe, umgehen soll. Ich beschließe, meine Traurigkeit und Schockiertheit in Ehrgeiz umzuwandeln. Ich will und muss was tun. Ich möchte noch mehr sehen und meine Erfahrungen weiter geben.

An den nächsten Tagen bin ich wieder mit Schwester Angela verabredet. Wir treffen uns mit einem Poverello-Mädchen, sie soll uns durch die Sandlandschaft in die traditionellen Dörfer begleiten. Wir besuchen nun ca. 15 Familien des Poverello Projekts. Einige von ihnen leben in Lehmhäusern oder Wellblechhütten. Die Wärme der Mittagssonne wird vom Sand reflektiert, überall sind Fliegen, es mischen sich viele unangenehme Gerüche in der Luft. Andere Familien haben sich aus Gräsern eine Behausung geschaffen, wieder andere haben gar kein Dach über dem Kopf.

Das Faszinierende – es herrscht auch hier eine fröhliche Stimmung, ich bin überall willkommen, es wird offen mit mir gesprochen und sogar für mich gesungen.

Ich erzähle von meinen Erfahrungen in Sambia und von meinen Plänen für Deutschland. Die Familien bedanken sich für all die Hilfe, die ihre Kinder durch das Poverello Projekt bekommen und hoffen, dass diese Hilfe nicht abbrechen möge, schließlich wissen sie aus eigener Erfahrung, wie sehr ihnen eine Schulbildung fehlt. Zum Abschied wünschen sie sich, dass ich ein paar Fotos von ihnen mache, besonders die Kinder sind begeistert, sich auf dem Bildschirm meiner Digitalkamera zu sehen.

Schwester Angela und ich werden meistens von einigen Familienmitgliedern ein Stück Weg begleitet. Hierbei zeigt sich erneut, wie freundlich und vertraut die Menschen miteinander umgehen. Sie rufen sich etwas zu, winken und sie kümmern sich arbeitsteilig um die alten und kranken Menschen, soweit sie die nötigen Mittel dazu haben.

Zum Schluss treffen wir die Familie des 16 jährigen Jungen, dessen Geschichte mich so sehr berührt hatte. Er ist nicht da, hat nachmittags Unterricht, seine Mutter treffen wir auch nicht an, wohl aber seine kranke Oma. Sie liegt in der Hütte auf dem Boden in ihren eigenen Exkrementen, kann kaum sprechen. Ihr Gesicht ist eingefallen, aufstehen kann sie nicht mehr.

Sie gibt mir ihre Hand, bittet mich gastfreundlich, mich hinzusetzen. Männer aus dem Dorf bringen Stühle, weil die alte Frau nicht möchte, dass ich auf dem Boden sitze. Mit Hilfe von Schwester Angela, die dolmetscht, erzählen wir eine Weile. Sie träumt von Brot, Butter und Tee, schon seit ein paar Tagen hat sie nur Wasser zu sich genommen. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, noch einmal sonntags in die Kirche zu gehen.

Ich verspreche ihr, sie am nächsten Tag wieder zu besuchen und etwas zu essen mitzubringen. Als ich komme, freut sie sich und verspricht ihrerseits für mich zu beten, eines der größten Komplimente, das man in Sambia bekommen kann. Von den Schwestern erfahre ich später, dass sie nach meiner Abreise noch mal in der Kirche war und vor kurzem gestorben ist.

Meine Zeit in Mongu und Lusaka geht zu Ende, jedenfalls jetzt erst mal. Ich danke allen, die mir diese Erfahrung ermöglicht haben, von Herzen.

Ich fahre mit dem Wissen nach Hause, dass die Kinder und ihre Familien dringend Schulgeld, Geld für Schuluniformen, Kleiderspenden und Decken brauchen. Ich nehme die Überzeugung mit, meinen Beitrag dazu zu geben.

Ich bitte meine Familie, meine Freunde und alle, die sich angesprochen fühlen um Unterstützung!

Eva Neu